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Dezember 2019
22. Dezember 2019 |
Die Magie der Stille
Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester mit Mahlers Neunter Sinfonie in der Elbphilharmonie
Wie kann man den magischen Moment der Stille beschreiben, die sich in einem Konzertsaal ausbreitet, wenn die letzten Töne verklungen sind und mehr als 2000 Menschen gemeinsam atmen? In Worten lässt sich das kaum ausdrücken, man muss es erleben. Und wenn einem diese Gnade zuteil wird, vergisst man den Moment nie mehr.
So war es am 17. Dezember 2019, als der letzte Streicherhauch verschwebt war in dieser einmaligen Transparenz des Großen Saals der Elbphilharmonie, und als auch der letzte hartnäckige Huster endlich Ruhe gab. Das Saallicht war auf ein Minimum gedimmt – auch über dem Orchester, dieses langsam verlöschende Licht entsprach dem Abschied, den der letzte Satz dieser großen Sinfonie markiert.
Und wieder einmal ist es Currentzis gelungen, diese Magie herzustellen, die sich entfalten kann, wenn Musiker sich ganz und gar der Musik und dem Moment hingeben, wenn sie "eintauchen in die Tiefen des Herzens", wie Currentzis es in einem Gespräch mit Sarah Willis ausdrückte. Die Hornistin der Berliner Philharmoniker sprach mit ihm im Zusammenhang mit seinem Debut bei diesem Orchester mit dem Requiem von Verdi Ende November vergangenen Jahres (das komplette Interview ist kostenlos in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker zugänglich). In diesem Gespräch sagte Currentzis auch:
"Kunst in der Musik ist etwas, das man aus eigenem Antrieb schaffen muss. Wenn man kein Feuer im Herzen hat und nicht in dem Sinn verletzlich ist, dass man den Raum der Musik öffnen kann, dann wird auch kein Zuschauer diesen Raum öffnen. (...) Die Menschen kommen zu uns und schenken uns Stille, ihre Stille. Diese Stille müssen wir füllen. Wir haben also eine große Verantwortung, wir dürfen nicht schummeln. (...) Wie alle Musiker träume ich vom perfekten Zusammenspiel. Manchmal gelingt das. Man spielt mit den Kollegen und hat das Gefühl, dass man nicht ein Stück spielt, sondern dass es sich von selbst entfaltet. Das ist der Moment, wenn ich sage: Die Engel singen. Es ist ein transzendentaler Moment. Aber wir können ihn nicht bewusst herbeiführen, er geschieht einfach."
Solche Momente gab es einige bei diesem denkwürdigen Konzert in der Elbphilharmonie. Ganz besonders am Schluss, wenn die Musik regelrecht erstirbt in die Stille hinein. "Das Pianissimo spielt mit der Stille, in der die heiligste Dinge geschehen", sagt Currentzis in dem oben erwähnten Interview. "In der Stille am Schluss bewahren wir die Stille. Denn der größte Shatz in unserem Leben ist die Stille. Wir leben ständig im Lärm. Wir sind umgeben von Geräuschen. Wenn wir mit dem Publikum in der Stille verharren und diese Leere teilen, fühlen wir uns absolut erfüllt. Das Pianissimo ist der tragische Tod der Stille durch einen ganz leisen Klang."
Und so ist es neben der Virtuosität des Orchesters, das jede einzelne Note mit dem Herzen spielt, das ebenso zu raunen und zu wispern versteht wie zu toben, aufzubegehren und zu trumphieren (vor allem im dritten Satz), eben diese Magie der Stille, die am meisten faszinierte an diesem Abend.
Schon die Interpretation von Mahlers Neunter durch Esa Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra London (am 1. Oktober in der Elbphilharmonie) war beeindruckend. Aber das, was Teodor Currentzis hier mit seinen Musikern in den Saal atmete, ging noch sehr viel direkter und tiefer unter die Haut. Vielleicht auch deshalb, weil es noch eine Zugabe gab, diesem Konzert die Krone aufsetzte. Sie hätten die Tradition eingeführt, nach jedem Konzert noch etwas weiterzuspielen, kündigte Currentzis in den Schlussbeifall hinein an. Man mache jetzt eine kleine Pause, und danach gehe es noch ein bisschen weiter. Man schließe damit an den letzten Satz an, an diese letzten Seiten von Mahlers Sinfonie. Die Leute könnten sich die Füße vertreten oder etwas trinken, und wer nicht bleiben könne und die Bahn oder den Bus erreichen müsse – "see you next time". Womit es weitergehen sollte, blieb offen. Viele dachten vermutlich, es gebe eine Zugabe des gesamten Orchesters. Weit gefehlt! Denn die Orchesterwarte sammelten bereits die Noten ein und verpackten die Kontrabässe in ihre Reisehüllen. Stehen blieben lediglich einige Notenpulte rechts und links am Bühnenrand sowie im mitteleren Bereic der ersten Empore im Saal gegenüber der Bühne. Und so mutet es an, als schwebten Klänge aus einer anderen Welt herein, als die beiden Konzertmeister des SWR-Symphonieorchesters, Jermolaj Albiker und Vivica Percy ihre Geigen heben und einen Dialog beginnen – Luigi Nonos "Träumerei" von 1989, mal ebenso verschwebend-zart wie die letzten Töne von Mahlers Neunter, mal wütend sich aneinander abarbeitend. So mancher unter den Zuschauern hielt das nicht mehr aus und machte sich - mehr oder weniger hörbar - auf den Heimweg.
Dass man, wenn man sich entschieden hat zu bleiben, nicht in der Lage ist, den Musikern den Respekt zu erweisen, das Stück dann auch bis zum Ende anzuhören, ist allerdings ein ebenso großes Armutszeugnis für das Hamburger Publikum wie das ewig störende Husten und Rascheln in die Stille hinein. Wer mit dem Herzen hören konnte und nicht nur mit den Ohren, ging trotzdem erfüllt und beseelt nach Hause.
08. Dezember 2019 |
Meine Entdeckung des Jahres: Das Weinessigut “Doktorenhof”
Ich gebe es zu: Essig hat in meiner Küche bisher eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Er gehört an den Salat, an schwäbische Linsengerichte – ok. Aber sonst? Seit diesem Jahr weiß ich es besser. Seit ich über ein Produkt gestolpert bin, das den schönen Namen "Die Hübschlerin" trägt. Und ja, sie ist ein Essig.
Wie kommt man darauf, einem Essig einen solchen Namen zu geben? Ich wurde neugierig und schrieb an den Hersteller, den ich bisher noch nicht kannte: die Essigmanufaktur "Doktorenhof" in der Pfalz. Die Unterlagen, die man mir daraufhin schickte, öffneten mir die Augen, dass ich den Essig bisher ganz offenbar maßlos unterschätzt hatte ...
Was gab es da nicht alles zu entdecken:
Essige zum Trinken (zum Trinken???? Jawohl, zum Trinken – wie einen Apéritif! oder Digestif!) mit so wohlklingenden Namen wie "1001-Nacht-Balsam" oder "Balsam of Roses" (ein Rosenessig ... was es alles gibt!) oder "Acetum Royal" (ein besonders edler Essig, verfeinert mit Gelée Royale, dem Saft, mit dem die Bienen ihre Königinnen ernähren). Oder "Engel küssen die Nacht" mit Kirschen und Vanille für Süßspeisen, Käse, Obstsalat; "Giacomo Casanova" mit wilden Pomeranzen und Lavendel für Fisch, Meeresfrüchte, Käse, Pasteten; "Nofretete - die Schöne ist gekommen" mit Macis, Orangen, Pomeranzen und Rosenblüten für Brie, Geflügel, Lamm und Krustentieren; "Vatermörder-Paaricide" - ein Bitter mit 19 verschiedenen Kräutern, ein idealer Digestif; "Wenn Schmetterlinge lachen" mit Passionsfrucht und Vanille zu mediterraner Kost und Carpaccio; "Tränen der Kleopatra" zu Gänseleber, Austern, Pilzen, Wild. Und so könnte ich die Reihe der Beispiele noch um viele weitere Essige ergänzen, die der "Doktorenhof" bereithält.
Es sind Essige, die jedes Essen verfeinern. "Zeit für saure Sinnlichkeit" heißt da Motto der Manufaktur – und sinnlich sind diese Essige allemal. Sie schmeicheln der Zunge, sie geben den Speisen erst den letzten Pfiff und lassen sie ihr Aroma voll entfalten. Kurzum: Seit ich den Doktorenhof kenne, kommt mir kein anderer Essig mehr auf den Tisch.
Der neueste Clou: Die Kombination eines edlen Essigs mit Safran, dem teuersten Gewürz der Welt, das der Doktorenhof in der Pfalz selbst anbaut und von Hand erntet und verarbeitet. Es gibt diesen Essig in zwei Variationen: als "Kaiser Hadrian" mit kräftigem Aroma und leichter Bitternote, und als "Königin Louise", die lieblichere Variante mit dezenter Süße.
Und was steckt nun hinter der "Hübschlerin"? Verführung pur ... Eine Hübschlerin war im Mittelalter eine käufliche Frau für gewisse Stunden – ein bisschen frech, kokett, vor allem aber ein Sinnbild für ungezügelten Genuss. Und genau das ist die Hübschlerin als Essig: eigenwillig, ein bisschen pompös, aber auch duftig und so raffiniert in ihrer Komposition aus Trauben, Erdbeersaft, Honig und Kräuftern, dass man nicht mehr ihr lassen kann. Jedenfalls, wenn es ums Essen und Trinken geht.
Aber damit nicht genug: Es gibt auch Essigpralinen (!), ein Buch mit Essig-Märchen (!!) und Rezepten, es gibt Probiersets, Chutneys, Aufstriche und Senf in verschiedenen Variationen. Und mundgeblasene, höchst dekorative Gläser für die Essigverkostung.
Ach ja, undnatürlich bietet der Doktorenhof Führungen durch seine Kellergewölbe an mitsamt einer Essig-Degustation. Und damit man nach danach keine weiten Wege mehr hat, mietet man am besten das "Essig-Apartment" an, das der Doktorenhof als Ferienwohnung vermietet. Denn natürlich baut der Doktorenhof eigenen Wein an – die Grundlage für den Essig.
Eines steht für mich als guter Vorsatz fest: 2020 werde ich dem Doktorenhof einen Besuch abstatten. Man gönnt sich ja sonst nix ...
Und nein, ich wurde für diesen Beitrag nicht bezahlt. Ich durfte aber ein paar der Doktorenhof-Essige probieren und bin seither süchtig danach ...
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Zurzeit arbeite ich an einer Multimedia-Reportage – das ist ein spannendes Projekt, das mir erlaubt, Neuland zu betreten mit diesem journalistischen Format. Stay tuned!