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02. November 2019 |
Mariss Jansons – der Magier
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Rudolf Buchbinder in der Elbphilharmonie
Was für ein rührendes Bild gleich zu Beginn: Zwei kleine alte Herren, leicht gebeugt schon, aber von erkennbar unbeugsamer Würde, betreten mit kleinen, fast etwas unsicher wirkenden Schritten die Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie. Es sind Rudolf Buchbinder, 73 Jahre alter in Tschechien geborener österreichischer Pianist, und Mariss Jansons, 76 Jahre, der Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Und dann strafen die beiden jegliche Gebrechlichkeit Lügen, denn welche Kraft und Lebendigkeit entfaltet sich hier schon vom ersten Ton an!
Zu Beginn stand das Klavierkonzert A-Dur KV 488 von Wolfgang Amadeus Mozart auf dem Programm, eines seiner bekanntesten und meistgespielten Werke. Buchbinder und das Orchester spielen diese delikate Komposition ausgesprochen unprätentiös, ohne jegliche Manieriertheit, aber doch mit dem nötigen Schmelz, vor allem im Adagio und mit der jubelnden Freude im Allegro assai, dem Schlusssatz. Da passt alles perfekt zueinander. Und Buchbinder bedankt sich für den langanhaltenden Beifall mit einem Stück von Johann Sebastian Bach, in dem er alle seine Fingerfertigkeit noch einmal voll entfalten kann.
Nach der Pause dann die 10. Sinfonie E-Moll op. 93 von Dmitri Schostakowitsch, entstanden nach dem Tode Stalins, der Schostakowitsch das Leben zur Hölle gemacht hat. Und so ist diese Sinfonie eine Abrechnung und ein Befreiungsschlag zugleich, sie durchmisst alle Höhen und Tiefen, allen Jubel, dass der Peiniger endlich in der Hölle schmort, aber auch alle Verzweiflung, die der Komponist zu seinen Lebzeiten durchlitten hat.
Vor allem im zweiten Satz, in dem Schostakowitsch die Gräuel des 2. Weltkriegs in tosende Tonfolgen umsetzt, kann dieser Saal seine gesamte Klangpracht entfalten, weil das Orchester seine Akustik zu nutzen versteht – dieses Volumen und zugleich diese Transparenz! Nicht minder bewegend die leisen, ruhigen Stellen im dritten und vierten Satz, in denen Holz- und Blechbläser ihre Instrumente erblühen lassen und die Streicher mit einem Strich die Bogen führen.
Die Musiker spielen, als gäbe es kein Morgen. Sie folgen ihrem Chefdirigenten so schmiegsam, dass eine kleine Regung der Finger genügt, um den Klang zu erzeugen, den sich der kleine, zarte, aber doch so energiegeladene Mann am Pult wünscht. Von seinen Händen geht eine Weisheit aus, die sich selten so zeigt. Und der ganze Große Saal atmet mit – es ist eine selten zu erlebende Einigkeit, die aus dem Publikum und den Musikern ein Ganzes schmiedet.
Es ist ein denkwürdiger Abend, der mit Standing Ovations endet, mit einem erkennbar glücklichen Dirigenten, ebenso zufriedenen Musikern und einem Publikum, das reicht beschenkt den Heimweg antritt. Was für ein Erlebnis!
Nachtrag am 1. Dezember 2019: Soeben kam die Nachricht, dass Mariss Jansons heute gestorben ist. Was für ein Verlust. Und was für ein Glück, dass der Norddeutsche Rundfunk das oben besprochene Konzert aufgezeichnet hat und am 1. Januar 2020 zum Neujahrstag auf NDR Kultur senden wird. Es ist vielleicht das letzte gewesen, das Mariss Jansons noch dirigiert hat. Er wird fehlen.
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Zurzeit arbeite ich an einer Multimedia-Reportage – das ist ein spannendes Projekt, das mir erlaubt, Neuland zu betreten mit diesem journalistischen Format. Stay tuned!